5
Die nächsten fünf Tage verbrachten sie damit, das Schiff in die Nähe des Ufers zu transportieren. Weitere zwei Wochen vergingen während der Reparaturarbeiten an der Dreyrugr. Man stellte während der ganzen Zeit eine Wache auf, aber niemand machte Anstalten, sich in diesem Gebiet sehen zu lassen. Als das Schiff schließlich wieder im Wasser lag (es war immer noch ohne Masten und Segel) und sie es den Fluß hinabruderten, zeigte sich noch immer keine lebende Seele.
Die Mannschaft, daran gewöhnt, an Uferstreifen entlangzusegeln, auf denen es von Menschen nur so wimmelte, begann sich unbehaglich zu fühlen. Die Stille fraß an den Nerven. Zwar gab es außer den Fischen, die den Fluß bevölkerten, und den Würmern, die sich an den Flußufern aufhielten, keine Tiere auf dieser Welt, aber die Menschen hatten stets genügend Lärm gemacht.
»Die Hyänen werden noch früh genug hier auftauchen«, sagte Clemens zu Blutaxt. »Eisen ist auf diesem Planeten viel wertvoller, als Gold es jemals auf der Erde war. Bist du immer noch scharf auf einen Kampf? Bald wirst du soviel davon haben, daß dir übel wird.«
Der Nordmann schwang seine Axt ungeachtet der Schmerzen, die ihm zu schaffen machten. »Sollen sie nur kommen! Sie werden erfahren, was es heißt, in einen Kampf verwickelt zu werden, der das Herz einer jeden Walküre zum Singen bringt!«
»Gefwätf!« sagte Joe Miller verächtlich. Sam lächelte und nahm eine Position ein, in der er hinter dem Titanthropen zu stehen kam. Obwohl Blutaxt nur ein einziges Wesen auf dieser Welt wirklich fürchtete, konnte man dennoch niemals sicher sein, ob er in der Lage war, sein Temperament zu zügeln. Der Wikinger war ein potentieller Amokläufer. Aber ebenso brauchte er Miller, der ihm zwanzig Krieger ersetzte.
Zwei Tage lang segelten sie ungestört durch das sonnenbeschienene Tal. Während der Nachtstunden bediente ein Mann das Ruder, und die Mannschaft schlief. Am frühen Abend des dritten Tages saßen der Titanthrop, Clemens und von Richthofen auf dem Vordeck, pafften Zigarren und süffelten den Whisky, den ihre Gräle ihnen beim letzten Halt verschafft hatten.
»Warum nennen Sie ihn ausgerechnet Joe Miller?« fragte Lothar.
»Sein wirklicher Name«, erwiderte Clemens, »ist ein schrecklicher Zungenbrecher und länger als ein deutscher wissenschaftlicher Fachausdruck. Als er mir zum ersten Mal über den Weg lief, habe ich mir alle Mühe gegeben, ihn auszusprechen, aber hingehauen hat es nie. Nachdem er genug Englisch gelernt hatte, um mir einen Witz zu erzählen – er war so scharf darauf, daß er es kaum erwarten konnte –, entschloß ich mich dazu, ihn Joe Miller zu taufen. Na ja, er erzählte mir eine so haarige Geschichte, daß ich sie zunächst kaum glauben konnte, und das lag daran, daß ich sie schon kannte. Ich habe sie zuerst gehört – wenn auch in einer leicht abgeänderten Fassung –, als ich noch ein kleiner Junge war und in Hannibal am Missouri lebte. Und schon auf der Erde hatte ich diese Geschichte mindestens hunderttausendmal gehört. Und dennoch faszinierte es mich, sie noch einmal zu hören – aus dem Munde eines Mannes, der hunderttausend oder einen Million Jahre vor der Zeit gestorben ist, in der ich gelebt habe.«
»Um was ging es denn in der Geschichte?«
»Um einen Jäger, der den ganzen Tag über der Spur eines verwundeten Hirsches folgte. Schließlich brach die Nacht herein, und mit ihr ein gewaltiger Sturm. Schließlich entdeckte der Jäger den Schein eines Feuers und stieß auf eine Höhle. Er hielt an und fragte den alten Medizinmann, der darin lebte, ob es ihm genehm sei, wenn er bei ihm die Nacht verbrächte. Und der alte Bursche erwiderte: >Sicher; aber es wird ziemlich eng werden. Du wirst damit vorliebnehmen müssen, bei meiner Tochter zu schlafen.< – Soll ich wirklich noch weitererzählen?«
»Fäm hat überhaupt nicht darüber gelacht«, brummte Joe. »Manchmal glaube ich, daf er überhaupt keinen Humor hat.«
Clemens kniff blitzschnell und zielsicher in Joes raketenförmige Nase und erwiderte: »Manchmal glaube ich fogar, daf du recht haft. Aber in Wirklichkeit muß ich schon deswegen der humorvollste Bursche der Welt sein, weil ich mir die meisten Sorgen mache. Schließlich basiert doch jeder Lacher auf einem heimlichen Schmerz.«
Er paffte vor sich hin und starrte auf das Flußufer. Die Abenddämmerung brach herein, und jetzt hatten sie ein Gebiet erreicht, das die Auswirkungen der von dem niedergehenden Meteor hervorgerufenen Naturkatastrophe noch stärker zu spüren bekommen hatte. Abgesehen von den Eisenbäumen schien hier alles von einer Feuersbrunst vernichtet worden zu sein, aber selbst die ersteren waren nicht davon verschont geblieben, daß ihre Äste den Flammen zum Opfer gefallen waren. Selbst die außergewöhnliche Rinde der Eisenbäume hatte starke Beschädigungen erlitten. Das darunterliegende Holz – es war härter als Granit – war stellenweise verkohlt. Die Druckwelle hatte eine ganze Reihe der Eisenbäume entwurzelt oder umgekippt. Die Gralsteine wirkten rußig. Sie standen zwar nicht mehr so ebenmäßig gerade wie vorher, hatten ihre Form jedoch nicht verloren.
Schließlich sagte Sam: »Lothar, diese Stunde ist ebenso gut wie jede andere, um dir ein wenig mehr darüber zu erzählen, aus welchem Grund wir diese Spur verfolgen. Joe wird dir alles in seinen eigenen Worten berichten, und ich werde nur dann mit einer Erklärung eingreifen, wenn du etwas nicht verstehen solltest. Es ist eine rätselhafte Geschichte, gewiß; aber sie ist nicht unglaubwürdiger als alles andere, was wir erlebt haben, seit wir wieder von den Toten auferstanden sind.«
»Ich bin durftig«, sagte Joe. »Laf mich erft waf trinken.«
Die dunkelblauen, in dicke Knochenwülste eingebetteten Augen des Titanthropen richteten sich auf die Öffnung des Bechers. Er blickte in die Höhlung des Trinkgefäßes, als symbolisierte sie für ihn ein Fenster, durch das er in die Vergangenheit blickte, um sich an die Szenen zu erinnern, die er zu beschreiben beabsichtigte. Mit gutturaler Stimme, die Konsonanten härter betonend, als dies in der englischen Sprache üblich war, und seinem komischen Lispeln, das im Zusammenhang mit seiner ungeheuer tiefen Stimme, die beinahe wie das Orakel von Delphi klang, begann Joe von dem Nebelturm zu berichten.
»Ich erwachte irgendwo am Fluff und war nackt wie jetft. Ich befand mich an einem Ort, der weit im Norden diefes Planeten liegen muff, weil ef da kälter war und daf Fonnenlicht weniger glänfend. Ef gab keinen Menfen da, nur unf… äh, Titanthropen, wie Fäm unf nennt. Wir hatten Gräle, aber fie waren viel gröfer alf eure, wie ihr fehen könnt. Und wir hatten weder Bier noch Whifky. Wir kannten keinen Alkohol, alfo hatten wir auch keinen in unteren Grälen. Wir tranken daf Waffer auf dem Fluff. Wir dachten, wir feien dort, wo alle hingehen, wenn fie fterben, daf… äh, Gott unf diefen Ort und all daf, waf wir brauchten, gegeben hätte. Wir waren glücklich, fehr glücklich; wir paarten unf, afen, fliefen und bekämpften unfere Feinde. Und ich wäre wirklich fehr glücklich da gewefen, wäre nicht daf Fliegedingf gekommen.«
»Er meint damit ein Fliegedings«, erklärte Sam.
»Daf habe ich doch auch gefagt. Ein Fliegedingf. Du follteft mich nicht immer unterbrechen, Fäm. Du haft mich schon unglücklich genug gemacht, alf du fagteft, ef gäbe keinen Gott. Und dabei habe ich fie doch felbft gefehen.«
Lothar sagte: »Du hast Götter gesehen?«
»Nicht genau. Aber ich fah, wo fie leben. Ich fah ihr Fiff.«
Von Richthofen sagte: »Was? Sag mal, wovon sprichst du eigentlich?«
Clemens schwenkte seine Zigarre. »Später. Laß ihn erst weiter erzählen. Wenn man ihn zu oft unterbricht, kommt er durcheinander.«
»Wo ich herkomme«, sagte Joe, »quaffelt man nicht einfach drauflof, wenn ein anderer redet. Ef fei denn, du legft ef darauf an, daf man dir in die Nafe kneift.«
Sam sagte: »Wenn man eine so große hat wie du, Joe, kann das sicher sehr schmerzhaft sein.«
Miller streichelte stolz seinen Riesenzinken.
»Ef ift die einfige, die ich habe, und fie iftmein ganfer Ftolf. Keiner von den Wichten in diefem Teil def Talef hat eine Nafe wie ich. Wo ich herkomme, ift die Gröfe der Nafe ein ficherer Hinweif auf die Gröfe def – waf fagt ihr noch mal fu diefem Ding, Fäm?«
Sam hüstelte und nahm die Zigarre aus dem Mund.
»Du wolltest uns gerade von dem Schiff berichten, Joe.«
»Ja, ficher. Nein, daf ift doch gar nicht wahr! Foweit war ich doch noch gar nicht. – Aber wie ich fon fagte: Einef Tagef lag ich am Fluffufer und beobachtete die Fife beim Fpielen. Ich dachte, fteh auf, mach dir einen Haken und fuch dir einen Ftock, damit du ein paar davon fangen kannft. Aber plötflich hörte ich einen Frei. Ich fah auf und entdeckte ein entfetflichef Monfter, daf gerade um die Fluffbiegung kam. Ef fah fürchterlich auf. Ich fprang auf und wollte gerade wegrennen, alf ich entdeckte, daf auf feinem Rücken Menfen safen. Fie fahen jedenfallf wie Menfen auf, aber alf daf Monfter noch näher kam, fah ich, daf ef allef kleine, räudige, fpindeldürre Fwerge waren, mit fo kleinen Nafen, daf fie nicht mal der Erwähnung wert find. Ich hätte fie alle mit einer Hand kaltmachen können, und doch ritten fie alle fufammen auf diefem schlangenartigen Monfter wie Bienen auf dem Rücken einef Bären. Und defwegen…«
Clemens, der der Geschichte gespannt zuhörte, hatte das gleiche Empfinden wie beim erstenmal. Er fühlte sich, als hätte er neben diesem Geschöpf aus der Frühzeit des Menschen gestanden. Wenn man das Lispeln, die Überbetonung der Konsonanten und das gelegentliche Suchen nach den richtigen Worten außer Betracht ließ, hörte sich die Rede dieses Titans wirklich beeindruckend an. Clemens konnte deutlich die Gefühle spüren, denen Joe in dieser Situation ausgesetzt gewesen war: Er kämpfte gegen die Panik an, stellte sich gleichzeitig Fragen und war drauf und dran wegzulaufen. Aber der Primat war gleichzeitig von einer solch starken Neugierde ergriffen worden, die man – wenn schon nicht menschlich, so doch in deren unmittelbarer Nähe ansiedeln mußte. Hinter seinen wulstigen Augenhöhlen lag etwas, das sich nicht damit zufriedengab, lediglich zu existieren, sondern Fragen über das menschliche Dasein stellte und in der Lage war, Gedanken aufzugreifen und zu verfolgen, die ihm absolut fremd waren.
Joe Miller blieb also am Ufer des Flusses stehen und umschloß mit der einen Hand seinen Gral; bereit, sofort damit das Weite zu suchen, wenn es die Lage erforderte.
Das Monster trieb näher. Joe kam der Gedanke, daß es vielleicht gar kein lebendiges Wesen war. Aber wozu diente der riesige Kopf an der Spitze seines Körpers, wenn nicht zum beißen? Trotzdem sah es nicht wie ein lebendiges Wesen aus. Es wirkte irgendwie tot. Aber das mußte nichts bedeuten, denn schließlich war Joe selbst einmal dabei gewesen, als ein Bär sich tot gestellt hatte. Als sie nahe genug herangekommen waren, war er wieder zum Leben erwacht und hatte einem der Jäger den Arm abgerissen.
Andererseits: Joe hatte den Jäger zwar sterben sehen, aber nun, seit jenem Tag, an dem sie alle wieder an den Ufern des Flusses erwacht waren, lebte auch er wieder. Und wenn er, Joe, wieder zum Leben erweckt worden war, warum sollte dann nicht auch dieses versteinert dahinschwimmende, schlangenähnliche Ungeheuer seine hölzerne Starre plötzlich überwinden und ihn zwischen den Zähnen zermalmen?
Aber Joe überwand seine Furcht. Er wartete – leicht fröstelnd – darauf, daß das Monster sich ihm näherte. Immerhin war er ein Titan, ein älterer Bruder des Menschen, der in der Morgendämmerung der Erde das Licht der Welt erblickt hatte. Und er war nicht dumm.
Einer der Zwerge – er war ebenso winzig wie die anderen – trug auf dem Kopf ein gläsernes Stirnband, an dessen Vorderseite eine stilisierte, rotleuchtende Sonne funkelte – winkte Joe zu. Die anderen, die hinter ihm auf dem hölzernen Körper des Ungeheuers standen, hielten Speere und andere seltsame Gegenstände in den Händen (später erfuhr Joe, daß es sich dabei um Pfeile und Bogen gehandelt hatte). Sie schienen nicht im geringsten Angst vor dem Koloß zu haben, der sie transportierte, aber das konnte auch daran liegen, daß sie gegen die Strömung angerudert hatten und nun so müde waren, daß ihnen alles egal war.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis es dem Anführer der Zwerge gelang, Joe dazu zu bewegen, an Bord des Schiffes zu kommen. Seine Gefährten gingen an Land, um ihre Gräle zu füllen, während Joe zunächst einmal langsam den Rückzug antrat. Während die Zwerge aßen, nahm auch er seine Mahlzeit ein, blieb allerdings dabei auf Distanz. Alle seine Kameraden waren in den Hügeln untergetaucht, denn das Schiff hatte sie in Panik versetzt. Erst als sie feststellten, daß die Flußschlange Joe nichts tat, kamen sie langsam zurück. Die Zwerge gingen wieder an Bord ihres Schiffes.
Der Anführer der Zwerge entnahm seinem Gral plötzlich einen langen Gegenstand, hielt einen glühenden Draht an dessen Spitze, nahm das lange Ding in den Mund und stieß Rauchwolken aus. Als er das zum erstenmal tat, sprang Joe auf und seine Kameraden hetzten Hals über Kopf in die Hügel zurück. Joe fragte sich, ob die winzignasigen Zwerge möglicherweise die Jungen eines Drachen waren. Vielleicht sahen die Drachen alle so aus, wenn sie noch klein waren, und konnten trotzdem – wie ihre Eltern – bereits Rauch und Flammen spucken?
»Aber ich bin ja nicht blöd«, sagte Joe. »Ef dauerte nicht lange, und dann wuffte ich, daf der Rauch auf dem Dingf raufkam, daf auf Englif Figarre heift. Der Anführer der Fwerge wollte mir feigen, daf ich die Figarre rauchen könnte, wenn ich fu ihm auf daf Schiff käme und mitführe. Nun, vielleicht bin ich damalf fiemlich verrückt gewefen, aber ich wollte unbedingt die Figarre haben. Vielleicht wollte ich auch nur die Leute meinef Volkef beeindrucken, ich weif ef nicht.«
Er war auf das Schiff gesprungen, das unter seinem Gewicht beinahe umkippte, und zeigte ihnen seinen Gral, um ihnen zu bedeuten, daß er bereit war, ihnen damit die Schädel zu zerschmettern, wenn sie ihn angriffen. Die Zwerge verstanden den Wink und kamen ihm nicht zu nahe. Der Anführer gab Joe einen Zigarre, und obwohl er anfangs ein wenig hustete und der Geschmack des Tabaks völlig fremdartig für ihn war, schmeckte es ihm nicht übel. Ähnlich war es mit seinem ersten Schluck Bier: Joe war auf das höchste entzückt davon.
Also entschied Joe sich, zusammen mit den Zwergen flußaufwärts zu fahren.
Man setzte ihn für die gröbste Arbeit ein und gab ihm den Namen Tehuti.
»Tehuti?« fragte von Richthofen.
»Die griechische Form lautet Thoth«, erklärte Clemens. »Für die Ägypter sah er einfach aus wie der langschnäbelige Ibisgott. Ich nehme an, daß er sie auch an den Gott der Paviane erinnert haben muß – sein Name war Bast-, aber wahrscheinlich hat Joes unglaubliche Nase sie bei der Namensgebung mehr beeinflußt. So wurde er zu Thoth – der Tehuti.«
Tage und Nächte rannen dahin wie das Wasser des Flusses. Manchmal wurde Joe die Sache zuviel, und er wünschte sich, wieder an Land zu gehen. Bald konnte er auch die Sprache der Zwerge einigermaßen sprechen. Wenn er wirklich gehen wollte, würde dem Häuptling gar nichts anderes übrigbleiben, als ihn abzusetzen – zumal er genau wußte, daß die einzige Alternative darin bestand, daß Joe sein Schiff mit Mann und Maus versenkte, wenn er dessen Wünschen nicht entsprach. Aber jedes Mal, wenn Joe darauf zu sprechen kam, erklärte der Häuptling ihm, wie schade es doch sei, daß er ausgerechnet jetzt, wo er so großartige Fortschritte machte, seinem Bildungsprozeß ein Ende setzen wollte. Bisher sei Joe kaum mehr als ein Tier gewesen, obwohl er das Gesicht des Gottes der Weisheit trage – bald aber würde er ein Mensch sein.
Tier? Gott? Mensch?
Was bedeutet das?
Die Reihenfolge stimme nicht, hatte ihm der Häuptling der Zwerge erklärt. Die richtige gehe so: Tier, Mensch, Gott. Und außerdem gebe es noch die Möglichkeit, daß sich ein Gott hinter der Maske einer reißenden Bestie verberge und ein Mensch sich zum Tier zurückentwickele; daß er einmal ein Mensch und ein anderes Mal ein Tier darstelle.
Das war natürlich ein wenig kompliziert für das grobgerasterte Bewußtsein Tehutis. Er hatte sich daraufhin mit einem nachdenklichen Blick ans Ufer gekniet und darüber nachgedacht.
Was ihm dabei klargeworden war, war folgendes: Wenn er die Zwerge verließ, würde es für ihn weder Zigarren noch je wieder Bier geben. Die Leute, die dieses Land beherrschten, waren zwar von seiner Art, gehörten aber einem anderen Stamm an. Vielleicht würden sie ihn töten. Des weiteren hatte Joe zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie eine intellektuelle Stimulation erfahren. Sein Bewußtsein hatte sich verändert, und damit würde es aus sein, wenn er wieder zu den Titanthropen zurückkehrte.
Also schaute er den Zwergenhäuptling an, zwinkerte ihm zu, grinste, schüttelte den Kopf und teilte ihm mit, daß er auf seinem Schiff bleiben würde. Er übernahm seinen Dienst am Ruder und machte sich klar, daß von all den Dingen, die er gelernt hatte, das wunderbarste die Sprache war: in der man das ausdrücken konnte, was man dachte. Bald beherrschte er die der Zwerge fließend. Er griff nach allem, was der Häuptling ihm erzählte, und saugte die Informationen in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser – auch wenn manche Dinge ihn schmerzten wie ein Griff mit der bloßen Hand in einen Dornenbusch. Wenn ihm eine Idee gefiel, betrachtete er sie von allen Seiten, verfolgte sie bis zum Geht-nicht-mehr, verarbeitete sie und holte sie, wenn er gerade nichts Besseres zu tun hatte, Dutzende von Malen wieder aus seinem Gedächtnis hervor. Und schließlich verdaute er sie und zog seinen Nutzen daraus.
Der Fluß rauschte an ihnen vorbei. Sie ruderten und ruderten – stets in der Nähe des Ufers bleibend, wo die Strömung am schwächsten war. So verbrachten sie Tage und Nächte, bis die Sonne weniger hoch am Himmel stand und die Luft kälter wurde.
Sam sagte: »Joe und die anderen sind dem Nordpol ziemlich nahe gekommen. Die Inklination des Äquators dieses Planeten zur Ekliptik ist gleich Null. Wie wir wissen, gibt es hier keine Jahreszeiten; Tag und Nacht haben die gleiche Länge. Aber Joe hatte einen Punkt erreicht, von dem aus die Sonne ständig zur Hälfte oberhalb und zur Hälfte unterhalb des Horizonts zu sehen gewesen wäre, hätten nicht die Berge dazwischen gestanden.«
»Ja. Ef herrfte immer F-f-wielicht. Mir wurde kalt, aber noch längft nicht fo kalt wie den anderen. Fie haben fich beinahe die Ärfe abgefroren.«
»Joes Körper strahlt seine Wärme viel langsamer ab als unsere Zwergengestalten«, sagte Clemens.
»Alfo bitte«, sagte Joe. »Foll ich nun weitererfählen oder beffer meinen Mund halten?«
Lothar und Sam grinsten ihn an.
Joe fuhr fort:
Der Wind verstärkte sich und die Luft wurde neblig. Er begann, sich unwohl zu fühlen. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber andererseits wollte er nicht den Respekt des Zwergenhäuptlings verlieren. Also bereitete er sich darauf vor, jeden Zoll des Weges zurückzulegen wie die anderen, auf daß es sie ihrem unbekannten Ziel näher brachte.
»Du wußtest gar nicht, wo die anderen hinwollten?« fragte Lothar.
»Nicht genau. Foweit ich weif, wollten fie fu den Quellen def Fluffef, weil fie glaubten, daf dort vielleicht die Götter lebten, die fie in daf wirkliche Paradief einlaffen würden. Ihrer Anficht nach konnte diefe Welt nicht die wirkliche Welt, in die man nach dem Tode kommt, fein. Fie hielten fie nur für einen Fteg inf Paradief. Waf immer fie fich auch darunter vorgefteilt haben mögen.«
Eines Tages vernahm Joe ein Geräusch, das aus weiter Ferne zu ihnen herüberdrang und sich wie ein gigantischer, nichtendenwollender Furz anhörte. Nach einer Weile entpuppte sich das Rumpeln und Brausen als gewaltiger Donner, und sie erkannten, daß es von riesigen Wassermassen erzeugt wurde, die aus großer Höhe in die Tiefe stürzten.
Das Schiff glitt in eine Bucht. Hier gab es keine Gralsteine mehr. Die Männer mußten Fische fangen und sie trocknen. Zum Glück besaßen sie einige Vorräte an Bambussprossen auf dem Schiff; man hatte sie, solange man noch in sonnigeren Gefilden gekreuzt war, bei jeder kleinsten Gelegenheit gesammelt.
Der Häuptling der Zwerge und seine Männer sprachen ein Gebet, dann machte sich die gesamte Gesellschaft daran, die Anhöhe zu erklimmen, von der aus das Wasser in die Tiefe stürzte, und es war nur den übermenschlichen Kräften von Tehuti-Joe Miller zu verdanken, daß es dabei zu keinen Unfällen kam. Gelegentlich jedoch stellte sich sein übermäßiges Gewicht auch als Hindernis und Gefahrenquelle heraus.
Weiter und weiter kletterten sie; klatschnaß von dem sie fortwährend besprühenden Wasser. Als sie endlich dreihundert Meter über dem Flußlauf eine Anhöhe erreichten, die ebenmäßig und glatt wie eine Eisfläche war, legten sie eine Rast ein. Die Erforschung der näheren Umgebung förderte zu Tage, daß ein langes Tau von der Spitze der Steilwand herabbaumelte, das aussah, als hätte man es aus lauter Handtüchern zusammengeknotet. Joe probierte aus, wie viel Gewicht es tragen konnte, und kletterte dann, indem er sich Hand über Hand daran entlanghangelte, empor, bis er das Ende erreichte. Dann wandte er sich um nach den anderen, die sich mittlerweile angeschickt hatten, ihm zu folgen. Der Häuptling der Zwerge, der als erster hinter Joe herkam, legte anfangs eine solche Geschwindigkeit vor, daß ihn auf der Hälfte des Weges die Kräfte verließen und der Titanthrop ihn mitsamt des schweren Seils nach oben ziehen mußte. Auf die gleiche Art verfuhr Joe auch mit den anderen Männern.
»Wo zum Henker kam denn das Seil her?« fragte von Richthofen perplex.
»Irgend jemand war auf ihre Ankunft vorbereitet«, vermutete Clemens, »denn mit den primitiven Mitteln, die dieser Planet uns bietet, wäre es niemandem möglich gewesen, dieses Seil, das zudem an seinem Ausgangspunkt noch um einen Felsen verknotet war, dort oben anzubringen. Möglicherweise hätte ein Ballon einen Menschen in diese Höhe hinauftragen können. Es ist sicherlich nicht schwer, aus der Haut von Drachenfischen oder Menschen eine Ballonhülle zu konstruieren. Und Wasserstoff könnte man erzeugen, indem man den aufsteigenden Rauch glühender Holzkohle in die unmittelbare Nähe eines geeigneten Katalysators bringt. Aber wo findet man in einer Welt, die über fast keine Metalle verfügt, einen geeigneten Katalysator. Man könnte das Zeug natürlich auch anders erzeugen, aber das dazu benötigte Brennmaterial wäre kaum zusammenzukriegen. Außerdem hat man keinen Feuerofen gefunden, und den hätte man auf alle Fälle dazu gebraucht. Und warum hat man das Seil an dieser Stelle zurückgelassen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, irgendein Unbekannter – meinetwegen nennen wir ihn den Mysteriösen Fremden – hat das Seil für Joe und die anderen dort befestigt. Oder für irgend jemand sonst, der dort vorbeikommen könnte. Aber frage mich nicht, wer das hätte sein können oder wer es tat und warum. Aber hör zu, es geht noch weiter.«
Die Gruppe legte (das Seil hatte man mitgenommen) mehrere Meilen Weg im nebelhaften Zwielicht des Felsplateaus zurück. Sie erreichte schließlich eine weitere Anhöhe, auf der sich der Fluß verbreiterte, und stießen auf einen anderen Wasserfall, der so gigantisch war, daß Joe den Eindruck hatte, er sei groß genug, und verfüge über so viel Wasser, daß der Erdmond bequem auf ihm flußabwärts hätte schippern können. Er wäre in diesem Moment nicht einmal überrascht gewesen, wenn er hätte mitansehen müssen, wie der große, silbern-schwarze Himmelskörper, der hoch über dem Wasserfall zu sehen war, plötzlich an dessen oberem Rand erschienen und mit einem solchen Krachen in die Tiefe gestürzt wäre, daß er sich am Fuße dieses schäumenden Mahlstroms in Milliarden Einzelteile aufgelöst hätte.
Dann wurde der Wind heftiger und lauter, der Nebel dichter. Dicke Wassertropfen klatschten auf die Männer nieder, die von Kopf bis Fuß in ihre Tücher gewickelt waren. Die felsige Ebene, die vor ihnen lag, war so spiegelglatt und gerade wie jene, die sie gerade hinter sich gelassen hatten. Die Spitze des vor ihnen aufragenden Berges verlor sich im Nebel; sie konnte ebenso fünfhundert wie fünftausend Meter von ihnen entfernt sein. In der Hoffnung, irgendwo einen Einstieg zu finden, suchten die Männer den Fuß des Berges ab. Und sie fanden einen. Er wirkte wie eine kleine Tür, wie ein Verbindungsgang zwischen der Ebene und dem Berg, und war so niedrig, daß sie praktisch gezwungen waren, die ganze Strecke auf Händen und Füßen hinter sich zu bringen. Zwar rieben sich Joes breite Schultern unablässig an der ihn umgebenden Felswand, aber sie war so glatt, als sei der gesamte Gang künstlich erzeugt worden; als habe man ihn soweit abgeschliffen, bis alle seine Kanten und Ecken abgehobelt waren.
Der Tunnel führte in einem Winkel von fünfundvierzig Grad im Inneren des Berges nach oben. Es gab keine Möglichkeit, seine Länge abzuschätzen, und als Joe schließlich den Ausgang erreichte, waren nicht nur seine Schultern, sondern auch seine Handflächen und Knie – trotz der Decken, die er zum Schutz um sie geschlungen hatte – von zahlreichen Schürfwunden bedeckt.
»Eins verstehe ich nicht«, sagte von Richthofen. »Bisher ist es mir immer so erschienen, als dienten die Berge hauptsächlich dazu, uns davon abzuhalten, das Ende des Flusses zu erreichen. Weswegen hat man diesen Tunnel durch soliden Fels gebaut, wo er doch jedem Eindringling die Möglichkeit gibt, hindurchzukommen? Und warum existierte eine solche Möglichkeit nicht schon an der ersten Erhebung?«
»Hätte sich bereits in der ersten Erhebung ein Tunnel befunden«, sagte Clemens, »wäre er eventuellen Patrouillen oder Kontrolleuren, die sich in diesem Gebiet herumtreiben, sichtbar gewesen. Und der zweite Berg lag immerhin in einem dichten Nebelfeld.«
»Dieses aus Handtüchern zusammengeflickte Seil wäre ebenso sichtbar gewesen«, entgegnete der Deutsche.
»Möglicherweise hat es noch gar nicht so lange dort gehangen«, meinte Clemens.
Von Richthofen fröstelte.
»Laft mich um Himmelf willen endlich weitererfählen!« fiel Joe ein. »Flieflich ift daf meine Gefichte!«
»Ja, und eine ziemlich lange dazu«, meinte Clemens und warf einen Blick auf Joes mächtiges Hinterteil. »Wenn es noch lange dauert, bekommt mein Sitzfleisch Schwielen.«